Die Welt von Gestern von Stefan Zweig

Die Welt von Gestern von Stefan Zweig

Um die Gegenwart zu verstehen, ist es unerlässlich, die Vergangenheit zu kennen. Um Wien zu verstehen, muss man das österreichisch-ungarische Habsburgerreich verstehen.

Die Memoiren des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig, Die Welt von gestern: Memoiren eines Europäers wurde als das berühmteste Buch über das Habsburger Reich bezeichnet.

Es ist wohl eines der besten Bücher, die man lesen sollte, wenn man ein gutes Verständnis der Wiener, österreichischen und europäischen Kultur bekommen möchte.

Einerseits schildert es einen intimen Bericht über sein Leben und seine Reisen durch Wien, Paris, Berlin und London. Andererseits zeigt es die Last und die Zerrissenheit, mit der Wien in eine neue Republik eintrat.

stefan zweig Und es zeichnet ein dramatisch ausdrucksstarkes Bild einer längst vergangenen Welt, einer Vergangenheit, die so prägend ist, dass sie bis in die Gegenwart reicht und das moderne Wiener Leben bis heute prägt.

„WENN ich versuche, einen brauchbaren Ausdruck zu finden, um die Zeit meiner Kindheit und Jugend vor dem Ersten Weltkrieg zusammenzufassen, so hoffe ich, dass ich es am treffendsten ausdrücken kann, indem ich es das Goldene Zeitalter der Sicherheit nenne.“
– Stefan Zweig, Die Welt von gestern: Memoiren eines Europäers

 

Stefan Zweig war der Inbegriff eines Wieners und eines Europäers

Stefan Zweig
Stefan Zweig

Stefan Zweig ist einer der beliebtesten österreichischen Autoren. Er ist auch einer der weltweit am meisten übersetzten Autoren. Infolge des Naziregimes war er gezwungen, 1934 nach England zu emigrieren, zog dann 1940 kurz nach New York und schließlich nach Brasilien.

Seine Memoiren schildern eine lebendige, multikulturelle europäische Lebensweise und Mentalität. Sie umspannen eine turbulente Periode der österreichischen Geschichte, vom Wien der Jahrhundertwende am Rande des Krieges über die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen bis zu seinem Exil in Brasilien aufgrund der drohenden Machtübernahme der Nazis.

„Die Familie der Mutter ist international, bei Familientreffen wird Italienisch, Französisch, Deutsch oder Englisch gesprochen. Die jüdische Herkunft spielt dabei keine Rolle, niemand im familiären Umfeld praktiziert die Religion.“
Stefan Zweig, Die Welt von gestern: Memoiren eines Europäers

Die Welt von Gestern

Ein Meisterwerk

Das Buch ist ein Meisterwerk, ein Stück Literatur, zu dem man immer wieder zurückkehren wird. Es hilft auch, viele der Bräuche, Orte, Sprache und sogar Einstellungen und Mentalitäten zu verstehen, die bis heute mit Wien verbunden sind. Es beschreibt anschaulich eine Welt, die längst vergangen ist, aber in gewisser Weise noch in die Gegenwart hineinreicht. Die Welt von gestern, wie Stefan Zweig sie kannte, ist auch heute noch ein wichtiger Teil der österreichischen Kultur & Identität. Man könnte sogar sagen, dass sie eine der Säulen der österreichischen Wirtschaft ist, vorwiegend in den Bereichen Tourismus und Kunst.

„Am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“
Stefan Zweig, Die Welt von gestern: Memoiren eines Europäers

Ein Reiseführer, der Zeit und Raum überbrückt

Wenn Sie den unbezähmbaren Geist Wiens verstehen wollen, dann beginnen Sie hier. Sie werden nicht enttäuscht sein. Ich habe dieses Buch gerne vor meiner Ankunft in Wien gelesen.

Und dann habe ich es während meines ersten Jahres hier noch einmal als Reiseführer gelesen, während ich die im Buch erwähnten Orte besuchte. Ich habe viele Nachmittage, Vormittage und sogar Abende damit verbracht, seine Memoiren zu lesen und zu studieren.

Ich las es auf Englisch, um die Mentalität zu verstehen. Später las ich es auf Deutsch, um die Sprache zu verstehen. Dann las ich es, während ich im Café Griensteidl so manchen Kleinen Braunen trank, um die Kultur zu verinnerlichen. Ich las es, um Wien zu verstehen.

Das Café Griensteidl war eines von Zweigs Lieblingslokalen. Bald sollte es auch zu meinem werden. Leider gibt es nicht mehr. Aber es gibt noch andere Cafés, die von der Wiener Kaffeekultur und der Welt, die sie hervorgebracht hat, Zeugnis ablegen. Gehen Sie ins Café Sperl im 6. Wiener Gemeindebezirk, wenn Sie sich in die Welt von gestern versetzen lassen wollen. Gehen Sie ins Café Prückel am Ring gegenüber dem Stadtpark, um zu erleben, wie sich die Kaffeehauskultur nahtlos in das einundzwanzigste Jahrhundert eingebettet hat.

Auch heute noch relevant

Einmal mehr ist Wien gefordert, sich als Stadt neu zu erfinden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts musste sich Wien davon verabschieden, als mächtiges, lange regierendes, aber träges Oberhaupt eines multikulturellen und multinationalen Reiches wahrgenommen zu werden.

Stattdessen musste es sich damit abfinden, auf die Hauptstadt eines zerrütteten und reduzierten Staates reduziert zu werden, der am Rande Westeuropas neu positioniert wurde. Wien wurde zu einer Stadt im Zwielicht, eingezwängt zwischen einem geteilten Europa.

Dadurch wurde ihr Wert auf einen physischen Block reduziert, eine Barriere zwischen zwei politischen Dogmen.

Von einer Stadt im Zwielicht zu einer kosmopolitischen Metropole

Schönbrunn im Zwielicht
© Yolanda Reischer-Bohanec

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach dem Ersten Weltkrieg, war Wien gezwungen, seine imperiale Identität als Hauptstadt eines Vielvölkerreiches aufzugeben. Nachdem die alliierten Streitkräfte die Zerstückelung des Habsburgerreiches beendet hatten, verkündeten sie triumphierend: „Und der Rest ist Österreich.“ Wien wurde zur Hauptstadt eines verkrüppelten Staates degradiert. Die Jahre zwischen den beiden Kriegen waren von innerem Aufruhr geprägt, da Österreich darum kämpfte, sich als neue Nation zu etablieren. Wien wurde zum Schauplatz einander bekämpfender politischer Kräfte. Innerhalb der kurzen Zeitspanne von 20 Jahren wurde die Demokratie abgeschafft, eine Revolution brach aus und eine Regierung, die einer Diktatur gleichkam, wurde errichtet, bevor Österreich an Nazi-Deutschland fiel.

1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, war Wien wieder einmal gefordert, sich als Stadt neu zu erfinden. Es musste akzeptieren, dass es zur Hauptstadt eines zerrütteten und verarmten Staates am Rande Westeuropas reduziert wurde. Wien wurde zu einer Stadt im Zwielicht, eingezwängt zwischen einem geteilten Europa. Dadurch wurde ihr Wert auf einen physischen Randbereich reduziert, eine Trennwand zwischen zwei politischen Dogmen, die physische Grenze zwischen Ost- und Westeuropa. Wien war das Tor, das zum und durch den Eisernen Vorhang führte. Es war auch der Nährboden für reale und imaginäre Spionage.

Das Gefühl dieser Ära wird in dem klassischen britischen Film Noir Der dritte Mann von 1949 unter der Regie von Carol Reed mit Orson Wells und Joseph Cotton wunderbar eingefangen. Wenn Sie ein Fan des Films sind und einen Besuch in Wien planen, könnte Ihnen die 3.MannTour gefallen. Sie bietet einen ungewöhnlichen Blick auf das unterirdische Wien und sein Abwassersystem mit der originalen Wendeltreppe aus dem Film.

Wiener Staatsoper
© Yolanda Reischer-Bohanec

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, klangen Stefan Zweigs Worte, die auf eine europäische Identität drängten, wieder wahrer und aktueller denn je. Der Fall der Berliner Mauer brachte Europa auf einen neuen Kurs in Richtung Wiedervereinigung. Um die neu entstehenden Staaten zu integrieren, waren die bestehenden westeuropäischen Staaten gezwungen, Macht und Position neu zu definieren und zu verteilen. Für Österreich und seine Hauptstadt sollte sich dies als Glücksfall erweisen. Wien wurde innerhalb Mitteleuropas neu positioniert und war auf dem besten Weg, das pulsierende Herz der europäischen Kultur in einer neu gegründeten Europäischen Union zu werden.

Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hat sich Wien als ein angesehenes wirtschaftliches, diplomatisches, politisches und nicht zuletzt kulturelles Zentrum der Europäischen Union etabliert. Es wird weltweit als die Stadt der Musik bezeichnet, verfügt über eine starke Tourismusindustrie und eine florierende Start-up-Szene. All dies, während sie sich ihre einzigartige Mentalität bewahrt hat.

Menschen auf der Kärntner Straße
© Yolanda Reischer-Bohanec

Vielfältig wienerisch

Sicherheit, eine von Stefan Zweig beschriebene Eigenschaft aus dem Habsburgerreich, ist nach wie vor eine Priorität in der Wiener Entscheidungsfindung. Risikofreudige Menschen sind selten, aber sie nehmen zu. Die Wienerinnen und Wiener sind von einer gesunden Portion Skepsis geprägt. „Schau ma mal“ ist eine charakteristische Antwort auf alles, vom morgigen Wetter über die Planung einer Reise bis hin zur Gründung eines neuen Unternehmens.

Das mag der Grund sein, warum Trends hier länger brauchen, um sich durchzusetzen. Und das ist nicht nur schlecht. Das Warten hilft, herauszufinden, was funktioniert und was nicht, was in vielerlei Hinsicht ein großer Vorteil sein kann.

Ja, Wien ist europäisch, aber immer noch eindeutig wienerisch. Allerdings ist auch das im Wandel begriffen. Die Globalisierung, das Internet und vor allem die Migration zwingen Wien dazu, sich von einer multikulturellen, europäischen Stadt zu einer vielfältigen, globalen und weltoffenen Metropole zu entwickeln.

Die Herausforderung für Wien wird darin bestehen, eine neue Migrationsbevölkerung erfolgreich zu integrieren und gleichzeitig seine eigene Kultur zu bewahren.

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